Die Kulturelle Quelle Hegau-Schaffhausen-Bodensee

Die Kultur

Die Kultur hat es nicht leicht in unseren Tagen - Zeit, zu ihren Quellen zurückzukehren!

Der individuelle Mensch

Der individuelle Mensch, der bereit ist, sich weiterzuentwickeln, ist die erste und entscheidende Grundvoraussetzung unseres kulturellen Lebens.

Die klassische Musik

Die klassische Musik gehört zu den faszinierenden Kulturleistungen der Menschheit. Am faszinierendsten aber ist sie für den, der sie als individueller Mensch im eigenen Übeprozess erlebt.

Die Stimme

Die Stimme des Menschen ist das vielleicht unbestechlichste offenbare Beweismittel für die Existenz des menschlichen Geistes und der menschlichen Seele. Sie kann aber nicht nur deren Existenz beweisen -
sie kann geschult werden und dadurch existenzerhöhend wirken.


Die menschliche Stimme und die klassische Musik sind damit zwei Betätigungsfelder mit höchstem Selbsterkenntnispotential für den individuellen Menschen.


Hier eröffnet sich eine kulturelle Quelle

Vielleicht ist sie erst einmal unscheinbar - aber sie existiert; einmal gefunden, ist sie kraftvoll und unermüdlich; und sie zeigt, dass individueller Mensch und Menschheit zusammengehören.


Die kulturelle Quelle gehört allen Menschen, wird aber nur vom wahrhaft suchenden Einzelnen gefunden.


Nur wer sie selbst gefunden hat, kann andere auf der Suche nach ihr begleiten.


Wer sie selbst gefunden hat, wird es als seine Berufung ansehen, anderen bei der Suche nach ihr zu helfen.


Wer sie gefunden hat, wird in ihrer Fülle weit mehr finden, als dass sie sein persönliches kulturelles Bedürfnis befriedigt.


Wer sie gefunden hat, kann selbst zur kulturellen Quelle werden - für alle Menschen.


Die kulturelle Quelle und die Zukunft

Ad fontes – zu den Quellen – zu gehen, bedeutet, zu dem Grund vorzustoßen, wo sich das Individuelle mit dem Kulturellen berührt.


Doch die Dinge sind auch weiterzudenken. Es werden wieder Zeiten kommen, wo kulturell bewusstere Menschen - Menschen, die den Weg des Einzelnen gegangen sind -, sich finden werden zu neuen Gemeinsamkeiten, neuen kulturellen Gruppierungen, neuen Netzwerken, einem neuen Miteinander-Sein – ihr gemeinsames Wissen um die kulturelle Quelle wird sie zusammenführen.


Vivian Middelmann und Eckart Matthias Seeck haben viel gemeinsame Zeit an der kulturellen Quelle verbracht.

Die vielen gemeinsamen Auftritte in Konzertsälen und Kirchen, die gemeinsame Kurs- und Unterrichtstätigkeit und auch der rege gegenseitige Austausch über den Einzelunterricht des jeweilig anderen haben dazu geführt, dass es sich bei ihnen beiden nicht nur um ein Künstler-Duo, bestehend aus Sängerin und Pianist, handelt, sondern um eine gemeinsame Quelle des Wissens von der klassischen Musik.

Aus dieser gemeinsamen Quelle entspringen wiederum auch Einzelströme wie der Sprechunterricht der Sängerin oder der Klavierunterricht des Pianisten; Einzelströme, die auch aus getrennten Quellen kommen, zumal jede Musiker-Ausbildung individuell verläuft und jede Entwicklung ihre Vorgeschichte bereits in sich trägt. Vivian Middelmann und Eckart Matthias Seeck waren bereits Künstler, bevor sie sich kannten, doch wären sie nicht die Künstler, die sie sind, wenn sie nicht ihre gemeinsame künstlerische Quelle gefunden hätten.


Die kulturelle Quelle im Hegau

Es ist ein schönes Symbol, dass Deutschlands wasserreichste Quelle, die Aachquelle, nur wenige Kilometer entfernt von jenem Ort liegt, wo die kulturelle Quelle nun zu sprudeln beginnt. Zwei Künstler, die bereits lange ihre Wege danach ausrichten, ihre eigene kulturelle Bedürftigkeit stillen zu können, haben nun die Entscheidung getroffen, selbst die Quelle zu sein, nach der sie in Ost und West, Nord und Süd, Stadt und Land, an Meer und Fluss bislang gesucht haben. - Wie soll aber ein solcher Landstrich geartet sein, wenn er das Kulturelle zwar nicht repräsentieren, aber doch mit hervorbringen soll? Wenn er vielleicht das erst noch in sich trägt, was andernorts bereits in Erscheinung getreten ist? Muss er nicht ein Landstrich sein, der in seinen Naturphänomenen ideenerweckend ist? Weinbau auf dem Vulkan! Das Alpenpanorama von der Burgruine aus betrachtet! Der Obstanbau über dem See! Das gemäldehafte Farbenspiel der Dämmerungskulisse! - Der Bilder sind viele, deren Natursymbolik sich mit dem verbindet, was der Mensch mit der Natur im Einklang, vielleicht auch durch die Natur inspiriert, hervorgebracht hat.


- Es liegt auch ein wichtiges Zeichen darin, dass der Mensch, gerade wenn er dazu ansetzt, sich weiterzuentwickeln, noch einmal zur Natur zurückfindet. Es könnte sich ihm dann zeigen, dass seine neuzeitlichen kulturellen Errungenschaften – und was da noch folgen mag – immer einer Quelle bedurften und bedürfen werden. Die kulturelle Quelle wird immer ein Bild dafür sein, dass des Menschen Ideale auf Abwege geraten können, wenn sie sich nicht immer wieder reinigen, erfrischen und an den Punkt zurückführen, wo der Einzelne sich fragt: „Ist das mein ursprünglicher Wille?“ -


So wollen wir, Vivian Middelmann und Eckart Matthias Seeck, mit unseren Schülern immer an diesem Punkt Einkehr halten, wo die Reinheit, Klarheit und Wahrheit des gesungenen und gesprochenen Wortes, wo die Schönheiten der klassischen Klavierkompositionen wie an ihrer Quelle erlebt werden können.


Spiritualität

Versteckt im Wort „Inspiration“ liegt das Indiz dafür, dass dem schöpferisch-kulturell empfindenden Menschen noch etwas von dem bekannt sein müsste, was, ehedem in der Religiosität beheimatet, im neunzehnten Jahrhundert begann, in Verruf zu geraten. Insbesondere der Künstler des Wortes und der Musik, also der Dichter, Schriftsteller, Komponist, hat als Neu-Schöpfer überhaupt keine andere Quelle als seine Inspiration – insofern müsste es sich bei ihm auch um den vielleicht letzten Verfechter, Verteidiger und Retter einer zeitgemäßen Spiritualität handeln. Möglicherweise aber kann oder will er nicht über seinen Schaffensprozess sprechen – so verbleibt zur Ehrenrettung des Unsagbaren immer noch der Tross an Helfern, die der Bühnenschriftsteller in seinen Schauspielern; der Komponist in seinen Interpreten findet. Diese sind es ja auch, die zu Zeugen und Repräsentanten, ja zu Vollziehern eines aktuellen Prozesses werden, der sich ganz unabhängig davon, ob er aus der Vergangenheit oder aus der Gegenwart stammt, einem spirituellen Kern widmet. Eigentlich sind sie die Hüter des Geheimnisses, wie so etwas möglich ist – doch auch sie werden selten danach gefragt, denn – wie gesagt – Spiritualität hat in der Öffentlichkeit Anti-Konjunktur.

Wie nun aber damit umgehen?

Der Künstler kann nicht so einfach das zur Privatsache erklären, was für seine Arbeit und sein Selbstverständnis essentiell ist – aber es hat auch keinen Sinn, öffentlich von etwas zu sprechen, das eigentlich dem geschützten kreativen Entstehungsraum angehört. Diesem Dilemma ist aber auch etwas abzugewinnen: Das Schützenswerte darf, künstlerisch verwandelt, durchaus ans Licht der Öffentlichkeit – und der geschützte kreative Raum kann durchaus mit Gleichgesinnten geteilt werden. Das Bild der Quelle steht auch hier wieder Pate, da das Verborgene und das sich Entbergende; das Einströmende und das Überfließende; das Unter- und das Oberirdische; die Bündelung und die Entgrenzung allesamt so zusammenkommen, dass ein spirituelles Prinzip deutlich anklingt. Die kulturelle Quelle kann ein Ort sein, wo das ehedem Religiöse neu formuliert; das Mythologische neu belebt; wo die Forschung nach dem Geistigen in neue Begriffe gegossen wird.


Von der "Schule für klassische Musik" zur "kulturellen Quelle"

Eine sechsjährige Wirkensphase im Nordwesten Deutschlands ging nun zu Ende, da die Corona-Pandemie verlangte, noch einmal alles auf den Prüfstand zu stellen, den Lebensort in die Nähe der Enkelgeneration zu verlegen und mit neuer Kraft und innerer Sammlung an etwas mitzuwirken, das in die Zukunft gerichtet ist – obwohl oder gerade weil die kulturellen Einbußen der vergangenen zwei Jahre noch lange nicht überwunden sind.


Etwas neues zu wagen, heißt nun auch, sich von etwas lösen zu können, das zu seiner Zeit gut und richtig war – oder sogar etwas zu beenden, das aus sich heraus noch nicht zu Ende gekommen ist. Auch wenn die Gründung einer Schule, in deren Mittelpunkt die klassische Musik steht, ihre tiefe innere Berechtigung hatte, ging es nun doch nicht darum, am neuen Ort, vielleicht nur unter anderem Namen, wieder die gleiche Zielsetzung vorzunehmen.


Einen Schüler, welchen Alters auch immer, ein Stück seines Weges zu begleiten, auf dass er ein Instrument lerne oder seine Stimme entwickele, ist eine höchst verantwortungsvolle und auch dankbare Aufgabe – für den, der wahrhaft Lehrer sein will. Die kulturelle Quelle bekundet nun aber, dass es kein „Weiter-so“ geben kann. Der musikalische „Privatunterricht“ hat seine Berechtigung in einer Welt, die den Menschen zu stark vom Individuum-Sein abbringen will – die Welt der Musik und auch des Kulturellen im allgemeinen braucht aber die Individuen als Individuen, um sie in ihren Strom des Öffentlichseins aufzunehmen. Hier heißt es also einen Schritt weiter zu gehen, nicht beim Lehrer-Schüler-Verhältnis stehenzubleiben, sondern vom Lehrer zum Mentor und vom Schüler aufzusteigen zum Adepten. Dem Mentor geht es gerade darum, den Anbefohlenen bis zur Quelle zu bringen, auch wohl wiederholt das Erfrischende der Quelle zum Erlebnis werden zu lassen, letztlich aber an der Quelle eine Art Taufe zu vollziehen, die dem Adepten die notwendige innere Sicherheit gibt. Für den weiteren Weg zeigt sich dann, wie sehr der Mentor noch gebracht wird, wie sehr das „Tauferlebnis“ bereits die nötige Tragekraft für die Schritte in die kulturelle Öffentlichkeit zu liefern vermag. Das Entlassen in die – wie auch immer geartete – Selbständigkeit soll das Ziel der gemeinsamen Arbeit von Mentor und Adept sein.


Insofern versteht sich die kulturelle Quelle als eine Basiseinrichtung, die weder Musik- noch Hochschule sein will, sondern den Grund legt für einen musikalischen Schulungsweg besonderer Art und Ausrichtung.


Der musikalische Schulungsweg

Jeder der übt, entwickelt sich selbst weiter, indem er sich auf ein Ziel hinbewegt. In der klassischen Musikausbildung ist das Üben bereits traditionell so fest verankert, dass jeder, der ein Instrument erlernen oder seine Stimme entwickeln will, bereits davon ausgeht, dass er dafür auch üben muss.


Heute den Weg zu gehen, an dessen Ziel das Spielen und Durchleben einer Beethoven-Sonate oder das Singen eines Schubert-Zyklusses steht, ist eine andere Herausforderung als für den Menschen der Schubert- und Beethovenzeit. Auch dieser musste üben – aber das, was er dabei in sich selbst zu überwinden und zu transformieren hatte, war nicht dasselbe wie für uns heutige.


Heute den Text zu sprechen: „Es war, als hätt' der Himmel die Erde still geküsst“, verlangt das Hinter-sich-Lassen eines völlig anderen Alltagsmenschen als die Zeitgenossen eines Eichendorff waren. Das heutige Üben ist ein bewusstes Sich-hinauf-Entwickeln zu etwas, das aus der Vergangenheit stammt.

Anders als bewusst kann es für uns nicht mehr sein, es sei denn, wir wollten unsere Identität als moderne Menschen preisgeben.

Anders als hinauf kann es niemals gehen, es sei denn, wir wollten unser Üben zu einem bloßen Repetieren und In-die-Routine-Bringen degradieren.

Dass – drittens – unser Üben davon geprägt ist, sich einem Inhalt zu widmen, der praktisch „hinter uns liegt“, dem wir vertrauen müssen – das vollendet den Dreischritt des wahren Übens und lässt dieses zum musikalischen Schulungsweg werden, sobald die drei Aspekte als zu entwickelnde Einheit erlebt werden können.


Neuer Art ist dieser Weg dadurch, dass er die Mitte hält zwischen Selbsterkenntnis und Musikerkenntnis, zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Individuum und Menschheit, zwischen dem Musiker und seinem musikalischen Kosmos.


Dieser Weg bleibt eingebettet in die Welt der Musik – die Musik aber in ihrer reinsten, schönsten und wahrsten Erscheinungsform, die wir die klassische nennen, droht zu versiegen, in Vergessenheit zu geraten oder verdrängt zu werden. Insofern ist der musikalische Schulungsweg, umlagert von den Anfechtungen des Nicht-Musikalischen, einem Initiationsweg vergleichbar, der in früheren Zeiten „in der stillen Klause“, in äußerer Abgeschiedenheit von der Welt stattfinden musste – nun aber mit dem Unterschied, dass die tiefe Versenkung in das Musikalische immer auch zu einem Hineinleuchten-Wollen und einem Sich-Verbinden mit der Welt sich umwenden wird.


Schriftstellerei

Sich der Quelle des Kulturellen anzunähern, bedeutet in unserer Zeit, ein Bewusstsein davon zu bekommen, was da fließt, sprudelt, hervorbricht. So schön es ist, „die Musik“ oder „die Malerei“ selbst sprechen zu lassen – wir kommen auch den visuellen und akustischen Künsten heute näher, wenn wir neben dem Gefühl sogleich das Gedankliche in uns von ihnen berühren lassen.

Ihnen so näherzukommen bedeutet darüber hinaus, ihnen ein „Kleid des Gedankens“ überwerfen zu können, das ihnen dort zusätzlichen Halt gibt, wo sie, auf sich gestellt in einer wenig kunstsinnigen Welt, allzuleicht marginalisiert werden könnten.


Das Schreiben von Eckart Matthias Seeck war von Beginn an in den Dienst der Musik gestellt. Auch ging es schon früh darum, einen Rettungs- oder Verteidigungsakt gegen eine allzu philisterhafte Kunstausübung zu unternehmen und das bereits gefühlte Ideal eines vollendeten Musizierens auch gedanklich zu durchdringen und mitteilbar zu machen. Es bedurfte aber einiger Befreiungsschritte, bis ein thematisches In-sich-Kreisen zur wirklichen Mitteilung werden und bis die nur für einen engen Zirkel von Menschen bestimmten Texte sich wandeln konnten in eine Gabe an ein größeres Publikum.


„Ich glaube an ein Publikum, eine Leserschaft, eine Interessensgemeinde aus Menschen, die bei dem Gedanken aufhorchen, dass der Quell noch nicht versiegt ist.“ - E.M.S.


So wird die kulturelle Quelle zum Ort, wo der klassische Gesang und das klassische Klavierspiel ausgeübt, erforscht und gelehrt werden; zum Ort, wo die menschliche Stimme auch als Sprechstimme um manche Facetten bereichert wird; zum Ort des Entstehens von Literatur, die aus diesem Themenkreis sich speist – und die nur hier entstehen kann.


...und noch eine Kunst

Auch die Bildende Kunst hat hier ein Wörtchen mitzureden: Neben Werken von H. Schlieker und Calmé haben die Acrylgemälde von Vivian Middelmann einen gewichtigen Anteil daran, den Unterrichtsräumen auch visuell das zu bieten, was den kreativen Herausforderungen auf musikalischem Gebiet entspricht.


Musik und Meditation

Je mehr man der Musik zugesteht, dass es sich bei ihr auch um ein Phänomen handelt, das mehr oder weniger in unserem Bewusstsein präsent sein kann – ob es sich dabei um ihren zentralen Punkt oder nur um ein beiläufiges Epiphänomen handelt, sei erst einmal dahingestellt -;

je mehr man der Musik zugesteht, dass sie unser Bewusstsein vor Herausforderungen stellt;

je mehr man sich mit dem Gedanken anfreundet, dass es einen irgendwie gearteten Ausgangspunkt des Musikalischen in unserem Bewusstsein geben muss -

um so mehr lässt man sich auf einen Bereich ein, wo sich Musik und Meditation berühren.


Ob es nun für jeden Musiker sinnvoll ist, seine Art des Übens oder Spielens bzw. Singens dem anzunähern, was landläufig mit dem Meditativen assoziiert wird – das Sich-Zeit-Nehmen; das Behutsame; das Achtsam-Vorsichtige -, ist aber erst einmal in Frage zu stellen.

Auch ist es durchaus nicht sinnvoll, jede Körperhaltung oder Körperbewegung auf andere Weise wichtig zu nehmen als auf die alleinig der Musik dienende.

„Das Meditative“ darf also nie die Führung übernehmen, kann aber, recht verstanden, überall von Bedeutung sein.

„Die Musik“ kann immer zum Gegenstand einer meditativ vertiefenden Beschäftigung gemacht werden – vorausgesetzt, der Meditierende ist in der Lage, ein „rein Musikalisches“ in sein Bewusstsein aufzunehmen.


Nicht vereinbar sind Musik und Meditation dann, wenn man ihrer beider Grenzen zu voreilig absteckt. Wenn man etwa glaubt, dass Musik „nur etwas fürs Gemüt“ sein soll; wenn man glaubt, dass der meditative Zustand nichts weiter will, als eine „Leere zu erzeugen“; wenn man glaubt, dass die Wahrheit sich am besten auf geteilten Wegen verfolgen lässt - dann wird man nicht finden, was beide einander geben können.


Ein Zusammengehen von Musik und Meditation wird sich dann von selbst einstellen, wenn man in beidem einen Weg sieht, der in eine Welt erhöhter Wahrnehmung und erweiterter Erfahrungsbereiche führt. Und wenn man diesen Weg wirklich tätig einschlägt.


Über Kultur

veröffentlicht am 9.6.2022

Wenn man das Kulturelle von der Quelle aus betrachtet, ist von vornherein ein Bekenntnis darüber abgegeben, dass der Begriff des Kulturellen vielschichtiger ist, als die alltäglichen Begegnungen mit dem Wort "Kultur" vermuten lassen.

Vielschichtig wird der Begriff eben nicht durch die Bandbreite aller Einzelheiten, die mit dem Etikett des Kulturellen - zu Recht oder zu Unrecht - behaftet werden können, sondern durch die Tiefendimension, die man ihm überhaupt erst zugesteht, wenn man von der "Quelle des Kulturellen" spricht.

Schon die Vorstellung, dass jegliche kulturelle Verlautbarung auf eine irgendwie geartete Quelle zurückzuführen ist, verändert den Blick und ermöglicht noch ein Weitergehen, wo ein vorschnelles Urteil beispielsweise dazu führt, zu sagen: "Dieses oder jenes Phänomen ist halt kulturell bedingt" - was impliziert: "das kann man nicht verstehen/erklären/begründen".

Nach der Quelle zu fragen bedeutet nun aber auch nicht, dass plötzlich alles verständlich wird: Es handelt sich nicht um ein Universalrezept, um Tief- und Hintersinn zu eruieren, wo vielleicht nichts dergleichen vorhanden ist. Als Diagnosemittel kann es aber allemal taugen: Es zeigt sich schnell, ob die Ursache eines Kulturphänomens wirklich im Kulturellen liegt oder sich aus kulturfremden Bereichen herleitet; ob die treibende Energie eines kulturell Gemeinten ursprünglich kulturell war; ob die leitende Idee hinter einer sich kulturell gerierenden Angelegenheit nicht doch aus einer anderen Grundbewegung hervorgeht.

Die Arbeitshypothese, dass es eine Quelle geben könnte und diese Hypothese hilfreich ist bei der Erforschung kultursoziologischer Fragen, stellt aber noch nicht den Kern dar: Die kulturelle Quelle ist keine Hypothese - sie ist ein Begriff, mit dessen Hilfe das Kulturelle begriffen werden kann. Sie ist nicht nur ein fiktiver Punkt, nach dem man seine Überlegungen ausrichten kann, wenn man die Entwicklungslinie eines kulturellen Phänomens zurückverfolgt; als Begriff - schon als Begriff - bringt sie einen geistigen Versammlungsort in die Welt, der einen Ausgangspunkt darstellen kann - nicht nur den Ausgangspunkt des Verständnisses, sondern auch des Erlebens und des Gestaltens von Kultur.

Erfahrung mit kulturellen Quellpunkten

Diejenigen aber, die "einen Begriff davon" haben wollen, inwiefern das Kulturelle auf seine Quelle zurückführbar ist, müssen ihn handhaben können, diesen Begriff - denn sonst wäre er wie Schall und Rauch in einem System abstrakter Gedanken, die zwischen dem Kulturellen und seiner Quelle pendeln, weil sie beider nicht habhaft werden können.

Der "Aufbruch ins Konkrete" findet dann statt, wenn man dem "zweifelsfrei Kulturellen" in die Bereiche des "zweifelsfrei Quellhaften" folgt - zweifelsfrei kulturell aber ist die Kunst; zweifelsfrei quellhaft ist der künstlerische Schöpfungsprozess.

Die Kunst und der Künstler in seinem Handeln stehen in dem gleichen Verhältnis zueinander wie Kultur und kulturelle Quelle, doch es handelt sich um ein Wechselverhältnis einer besonderen Dringlichkeit und eines Nicht-ohne-einander-Könnens. Die Kunst könnte nie entstehen ohne die Arbeit des Künstlers; der Künstler könnte nicht arbeiten ohne sein Stehen in der Welt der Kunst und sein Wissen um die Kunst. Fast scheint es so zu sein, dass der Künstler beständig um den Begriff der Kunst ringt, während er schaffend ist - wie wäre es nun, wenn wir, die wir nicht alle "Künstler" sein können, aber zumindest versuchten, "Kulturler" zu sein?

Wenn wir um den Begriff der Kultur in einer Weise ringen würden wie der Künstler um seine Kunst?

Wenn wir ein-für-allemal lernen würden, durch unser eigenes Handeln dem Begriff der Kultur neues Leben einzuhauchen? Indem wir nachzudenken begönnen, inwiefern unser eigenes Handeln nicht nur kulturell bedingt, sondern, um so relevanter, Kultur bedingend ist?

Indem wir so zu handeln üben, nicht, wie "unsere Kultur" uns lehrt, sondern wie unsere Kultur - durch uns - einmal sein soll?

Kulturelles Zukunftsbewusstsein

Das Bewusstsein in die Zukunft zu richten – unsere Zeit ist nicht gerade dazu angetan, uns dazu zu ermuntern. Wo wir auch hinsehen: Gerade an den Orten, wo noch Zukunftsoptimismus verbreitet wird, offenbart sich nur um so anschaulicher, dass es sich um eine entwurzelte Zukunft handelt, für die da die Werbetrommel gerührt wird; eine Zukunft, die uns nur mitnimmt, wenn wir uns von ihren Bildern und Neuerungen transformieren lassen; eine Zukunft, die den Nachdenklichen, Besonnenen, Zurückhaltenden deutlich zeigt: Ihr werdet dann nicht mehr gebraucht.

Und von der anderen Seite: Apokalyptische Szenarien, die uns suggerieren, dass all unser Glück eine Versündigung an unserem Planeten darstellt; dass all unser Wollen zukunftsschädliche Folgen zeitigt; dass es sich bei uns Menschen im Grunde um einen kaum wiedergutzumachenden Fehltritt der Natur handelt; drei Gedanken, durchaus nicht dazu geeignet, uns mit Selbstbewusstsein zu erfüllen.

Wie nun aber beide Seiten für ihre Weltsicht werben, macht die Lage nicht gerade übersichtlicher: Glücksverheißung auf der einen; Apokalypsewarnung auf der anderen – das heißt für uns Gegenwärtige, dass wir zur gleichen Zeit zwei eigentlich konkurrierenden Großmythologien ausgesetzt sind, die beide um Anhängerschaft buhlen, die beide das in unserer Zeit leer gewordene Feld des Mythologischen besetzen – die sich aber auch mit vereinten Kräften auf uns stürzen, wenn wir ihnen aktiv entgegentreten; die mancherlei Allianzen eingehen, um den Raum möglichst klein werden zu lassen, in dem noch anders über die Zukunft gedacht werden kann als ihren Agenden entspricht.

Doch wir sollten uns nicht einschüchtern lassen: Als Träger eines kulturellen Zukunftsbewusstseins könnten wir ganz gelassen bleiben, unser Sonderwissen pflegen, indem wir uns ganz unserer kulturellen Gegenwart hingäben; immer abspürend, wo das Zukunftsträchtige entspringt, wohlwissend, dass doch nur immer wenige solchen Gedanken werden folgen können...

Oder wir werden gar hofiert, gleich Avantgardekünstlern, deren Statements zwar nur ein kleines Publikum finden, die aber von den Mächtigen gebraucht werden, weil neue Trends erkannt und dann erst zu globalen Stoßrichtungen umgeformt sein wollen. Also doch kein Grund zur Sorge?

Die Pflege des kulturellen Gedankens

Gerade, wenn wir uns selbst als Experten des Zukünftigen anzusehen beginnen, sind wir am stärksten der Gefahr ausgesetzt, durch unser eigenes Zutun von der reinen Pflege des kulturellen Gedankens abzukommen. Die Angriffe oder Verführungen müssen gar nicht von außen kommen – die Deutungshoheit über das Zukünftige ist bereits ein Terrain, wo wir uns selbst zum Stolpern bringen können. Nichts liegt so weit auseinander wie: Musik, die sich in der Zukunft als die Zeiten überdauernd erweist – und Musik, die bereits als Zukunftsmusik komponiert wurde, also Zukunftsmusik sein sollte. Auch wenn wir „nur“ einer Anregung gefolgt sind, ist es doch unser Terrain und unsere Hausgewalt, also unsere Verantwortung, wenn wir aus der Anmut, Eleganz und Unschuld des kulturellen Gedankens etwas kalkuliert Zukunftsträchtiges; etwas, was sich rechnet; etwas, zu dem wir uns haben verführen lassen; etwas haben werden lassen, was nicht mehr originär das Unsere ist.

Wo kann dann aber der Weg entlangführen; die Widrigkeiten von innen und außen umschiffend, trotzdem zukunftsbezogen und unermüdlich fortschreitend? Welchen Charakters muss die Pflege des kulturellen Gedankens im Generellen sein?


- Dreierlei Modi scheinen mir hier von Bedeutung zu sein: I. Der Modus des Sich-Sorgens. II. Der Modus des Sich-Mitteilens. III. Der Modus des Sich-Erhaltens. Dass es sich jeweils um Reflexivformen handelt, ist kein Zufall: Dreifach ist die Erinnerung, dass hier ein Subjekt im Spiel ist, ohne das keinerlei Pflege des kulturellen Gedankens zustande käme, vonstatten ginge und Folgen zeitigte – und dieses Subjekt, dieses Ich muss wirklich dastehen, wirklich reflektieren, wirklich verantworten; es kann sich selbst nicht „auf die leichte Schulter nehmen“; es muss dazu stehen, dass der kulturelle Gedanke von ihm, dem Subjekt, gedacht wird. Die Pflege des kulturellen Gedankens ist die Tätigkeit eines Subjektes, das sich in ebendieser Tätigkeit selbst begegnet. Dies geschieht auf dreifache Weise, ist aber somit auch dreifach abgesichert gegen die äußere und innere Anfechtung, die im Grunde immer darauf zielt, das Subjekt in seiner Subjektivität zu Fall zu bringen.


I. Im Modus des Sich-Sorgens liegt zum einen die kontinuierliche Selbstvergewisserung, dass es „um die Sache geht“ - aber um eine Sache freilich, die der ständigen Sorge bedarf. Nicht zu verwechseln ist das Sich-Sorgen mit dem Sich-Sorgen-Machen: Während im ersten Fall das „Sich-Sorgen-um“ im Mittelpunkt steht und das Subjekt „in der Sorge um eine Sache steht“, lässt der Sprachgenius im zweiten Fall deutlich werden, dass die „gemachte Sorge“ schon nicht mehr ganz dem entspricht, was dem Objekt der Sorge am meisten zugute kommt. Nein; was der ständigen Sorge bedarf, das Objekt der Sorge verlangt nach kontinuierlicher Zuwendung und trägt damit selbst subjekthafte Züge. „Die Sache“, um die es uns geht, ist kein toter Gegenstand: Der Modus des Sich-Sorgens erfüllt sich nur dann, wenn das landläufige Subjekt-Objekt-Verhältnis von Beweger und Bewegtem überwunden wird, wenn nicht Materie auf Materie wirkt – die Sorge fällt niemals mit der Handlung zusammen -; der Modus des Sich-Sorgens ist als Grundgegebenheit der Pflege des kulturellen Gedankens eine seelische Grundgestimmtheit im Interesse eines Seelisch-Geistigen, das aus einem zunächst Seelenpflege-Bedürftigen herauswächst.

Dadurch ist im Sich-Sorgen auch ein Sich-Erneuern enthalten: Besagte seelische Grundgestimmtheit bleibt sich niemals gleich, sondern vollzieht den Entwicklungsprozess mit, dem seine Sorge gilt.


II. Im Modus des Sich-Mitteilens kommt dem Subjekt die Aufgabe zu, eine Mitte zu bilden zwischen dem, was als Mitzuteilendes wohl vorbereitet zu sein hatte, und dem, was im Mitteilungsprozess „frei wird“. Neben der sich modifizierenden Grundgestimmtheit der Sorge ist auch im Sich-Mitteilen ein Wandlungsmoment enthalten: Eine Mitte bilden zwischen einem in Ruhe Vorbereiteten und einem Frei-Werdenden ist hier, die Verknüpfung zu schaffen zwischen zwei disparaten, zunächst unverbundenen Bereichen. Sich-Mitteilen bedeutet folglich, „in eine Mitte zu springen“; eine spontane, durch keine Vorwegnahme abzusichernde Bewegung des „Sich-Versetzens“ zu vollziehen und dort aber in der eigenen Mitte „als“ der Mitte zwischen zwei Subjekten anzukommen – der erste Subjektort als der verlassene eigene; der zweite als der nie zu erzwingende, in den die befreite Mitteilung „einfällt“. Diese Mitte nun immer als eine gefüllte, die nicht nur ein „Dazwischen“ markiert, erleben zu können; in dieser Mitte gleich wieder als vollständiges Subjekt dazusein; diese Mitte zum Bestätigungsort des in Ruhe Vorbereiteten und zum Erfüllungsort einer gelungenen Übermittlung werden zu lassen -: dies ist dreierlei Grund, im Modus des Sich-Mitteilens nicht allein den Ausführungsaspekt zu betonen, sondern auch wiederum denjenigen Aspekt eines „Reifenkönnens“.

Bereits im Modus der Sorge schien auf, dass der Grundaspekt immer in eine Verwandlung tritt, wenn er sich konsequent verwirklicht – im Modus des Sich-Mitteilens ist ein vergleichbarer Wandlungs- und Vertiefungsaspekt darin verwirklicht, dass ein Subjekt seine Mitte findet, ja immer wieder findet, weil es sich hinauswagte in die Mitteilung dessen, was es vorher nur in sich bewegt hatte – und weil erst das Sich-Hinauswagen dazu führt, eine „befreite Mitteilung“ zu machen, die dem Gegenüber signalisiert: Du bist eingeladen, ehrlich zu antworten. Die „ehrliche Antwort“ - über die noch viel zu sagen wäre; allemal ist hier nicht nur die verbale Antwort in einem Gespräch gemeint – ist nun der dritte, nun von außen eintretende Vertiefungsgrund dafür, dass „Mitte-Bildung“ im Modus des Sich-Mitteilens auch ein Über-sich-Hinauswachsen eines Subjekts bedeutet. Um so wichtiger wird in diesem Zusammenhang der Modus des Sich-Erhaltens.


III. Der Modus des Sich-Erhaltens steht in der Gruppe der drei Modi zweien zur Seite, die sich im Gerichetetsein auf einen Gegenstand bzw. durch die Entfaltung eines Gegenstandes realisieren; das Sich-Erhalten dagegen scheint selbstbezogen zu bleiben.

Die Pflege des kulturellen Gedankens trägt aber das Sich-Erhalten nicht nur als fundamentales „Am-Leben-bleiben-wollen“ in sich – sie ist schon in ihrer Grundanlage über jedes „Um-ihrer-selbst-willen“ hinaus.

Doch es ist ja auch hier nicht eine Tätigkeit, die, als gute erkannt, in ihrem Erhaltenwerden ebenfalls nur gut sein kann, sondern es ist auch wieder das Subjekt, um das es geht; ein Subjekt, das sich erhalten muss, weil es nur durch es selbst seiner Aufgabe nachkommt. Insofern ist das Subjekt, das sich in der Pflege des kulturellen Gedankens erhält, mehr als ein beliebiges Subjekt, das sich um seiner selbst willen erhält – aber auch etwas anderes als ein Subjekt, das die Wichtigkeit seines Sich-Erhaltens allein mit der Wichtigkeit seiner zu erfüllenden Aufgabe rechtfertigt.


Nun soll es hier aber auch um die praktische Verwirklichung des Sich-Erhaltens gehen. Wie „macht“ man das: Sich-Erhalten? Was ist das für eine Tätigkeit?

- Der Begriff des Tätigseins wurde schon erwähnt im Zusammenhang mit der Pflege des kulturellen Gedankens als „Tätigkeit eines Subjekts, das sich in dieser Tätigkeit selbst begegnet“. Damit ist bereits gesagt, dass dieses Tätigsein entweder dadurch zu einem besonderen wird, dass darin eine Selbstbegegnung stattfindet – oder dass es als Tätigsein bereits die Besonderheit in sich trägt, die die Selbstbegegnung ermöglicht. In beiden Fällen wird dem Tätigsein zugestanden, individuell sein zu können – es ist also dem Individuum als Tätigsein nicht nur anhaftend, sondern konstitutionell zugehörig. Das Sich-Erhalten erscheint so als eine Tätigkeit, die das Vorhandensein des individuellen Willens nicht nur voraussetzt, sondern in sich real werden lässt. Das Eigentliche des menschlichen Willens tritt hier zutage.


Nun kann von hier ausgehend auch noch einmal ein Licht auf die anderen beiden Modi geworfen werden, die ja ebenfalls mit dem Willenshaften in enger Verbindung stehen. In ihnen beiden gehen zunächst die beiden Seelenverrichtungen des Denkens und des Fühlens aufeinander ein: Im Sich-Sorgen liegt der Keim im Gedanken, der dann zum Gefühl wird; im Sich-Mitteilen steht ein Gefühl am Beginn, das sich dann des Gedankens bedient – beide aber werden Wille, wenn sie in ihrem Zusammenwirken von Denken und Fühlen stark geworden sind. Insofern sie aber Wille werden – was mehr ist, als sich nur zur Ausführung des Willens zu bedienen -, aktivieren sie auch das In-sich-Sein des Willenshaften. Damit schließt sich in den drei Modi ein Kreis, der aus der Pflege des kulturellen Gedankens in seiner allgemeinen Tragweite insgleichen „nach innen strahlt“ und dem Individuum eine erlaubte und gewünschte Selbstbezogenheit seines „angereicherten Innern“ offenbart.

Die drei Modi in der realen Welt

Was nun zur Erklärung taugte, wie die Pflege des kulturellen Bewusstseins im Innern sich zusammenhält, taugt auch für den erneuten Blick nach außen: Weit genug sind die Begriffe des Denkens, Fühlens und Wollens in einen neuen Kontext gestellt und bespiegelt worden, um einen erfrischten Blick in die Umgebung zu ermöglichen.

Dabei soll insbesondere die Vorstellung leiten, dass die Pflege des kulturellen Gedankens, kulturelles Zukunftsbewusstsein und auch die Erfahrung mit kulturellen Quellpunkten sich in aller Regel des besonderen Zusammenspiels von Denken, Fühlen und Wollen bedienen und dadurch noch in anderer, mindestens ebenso relevanter Weise auf sich aufmerksam machen als sie es rein unter dem Etikett des Kulturellen tun.

Kommen wir zunächst – ausgehend vom Modus des Sich-Sorgens – zu jener Konstellation, dass ein ursprünglich im Gedanken Ansässiges erst das Gefühl anreichert und beider Verbindung dann in den Willen lenken kann, auf dass die notwendige Handlung vollzogen werde. Hier „schützt“ das Gefühl den Gedanken davor, nur kalt, technisch, rational umgesetzt zu werden.

Doch auch der umgekehrte Fall kann eintreten, dass das Denken das „pure Gefühl“ vor sich selbst zu schützen hat. Beiderlei Gefahren sind ihrer Umsetzung durch einen Willen geschuldet – im Falle der Sorge kann das „gut Gemeinte“ schädlich sein; im Fall des Sich-Mitteilens das ungefilterte Gefühl einen Effekt des Überrollens in Gang bringen. Beide Modi zeigen daher exemplarisch, wie bereits das, was noch gar nicht „im Willen angekommen“ ist, von seinem Gefahrenpotential bereinigt wird, wenn Gefühl und Denken frühestmöglich in einen Ausgleich gebracht werden können. Bemerkens- und beherzigenswert ist aber auch das Entweder-Oder des Vom-Gedanken-ins-Gefühl und Vom-Gefühl-in-den-Gedanken, was anzeigt, dass es nicht um eine in Undifferenziertheit endende Vermischung beider Seelentätigkeiten geht, sondern um ein Ineinanderwirken, das einem vorlaufenden Prozess entspringen muss und von diesem geprägt bleibt.

In jeder Form einer Selbständigkeit, die sich im Denken, Fühlen und Wollen darlebt, werden wir dieserlei Grundmuster wiederfinden können; in allem Subjekt-Sein sind sie anwesend, wo Subjekt-Autonomie eine Rolle spielt; nimmt man noch den dritten Modus hinzu, kann man gar so weit gehen, die bloße Fähigkeit, in diesem Grundmuster des Denkens-Fühlens und Wollens selbstbestimmt aufzugehen, in eins zu sehen mit unserer Fähigkeit zur Menschenwürde.


In Verfolg des kulturellen Gedankens und dessen Pflege haben wir nun einen Punkt erreicht, von dem anzunehmen sein müsste, dass zu ihm viele Wege führen. Wir wollten ja einen „erfrischten Blick in die Umgebung“ werfen, gerade weil sich abzeichnete, dass wir langsam in den Bereich des Allgemeingültigen und Allgemeinverständlichen vorstießen.

Dass wir dabei eine höhere Warte gewonnen haben, bestätigt, dass es sich um einen Standpunkt allgemeinen Interesses handelt: Wir können nun besser sehen, wo und wie die bespiegelten Begriffe sich verbergen und wo sie sich entbergen; auch wohl, wo man sie zu verschleiern versucht – und wo man ihrer sehnlichst bedürfte. Wir sehen aber auch, dass der Ort, wo wir wagen, den Begriff der „Fähigkeit zur Menschenwürde“ in den Mund zu nehmen, alles andere als dicht besiedelt ist.

Was hier, so knapp wie eben geboten, zur Darstellung kam, wird so lange noch nicht zum wirklichkeitsgesättigten Bilde, wie eben die Begriffe nur scheinbar allgemeinverständlich sind.

Der Gedanke mag uns bis hierhin geführt haben – doch was nützt es, wenn die Erfahrung fehlt?

Das kulturelle Dilemma

Es ist symptomatisch für Untersuchungen, die sich dem Kulturellen widmen, dass diese nur dann auf einigermaßen sicherem Boden stehen, wenn sie den Blick in die Vergangenheit richten und ihre Begrifflichkeit anhand dessen aufbauen, was sich bereits manifestiert hat. Nähern sich diese Untersuchungen dann der kulturellen Gegenwart, stehen sie in der Gefahr, anhand der dem Vergangenen abgewonnenen Begriffe dem eigentlich Neuen gegenüber „die falsche Brille aufgesetzt zu haben“. Das Neue kann so missdeutet werden oder gänzlich unerkannt bleiben – weil es neu ist.

Bevor man aber fordert, um dem Dilemma zu entkommen, so unvoreingenommen wie nur immer möglich den Blick auf die kulturellen Phänomene der Gegenwart zu richten und jederzeit den neuen Kindern neue Namen zu geben, sollte man sich klar machen, dass auch unser Verständnis der kulturellen Vergangenheit gegenwartsbezogen ist und als eine täglich zu leistende Aufgabe vor uns steht – gerade auch, um das Neue als das aus dem Vergangenen Herausentwickelte zu erkennen, aber auch um zu sehen, wo das Vergangene offenbar noch nicht hinreichend verstanden wurde.

Dann finden wir auch die Namen für die „neuen Kinder“, die nicht gänzlich mit dem Vergangenen brechen; dann erst entwickeln wir den Sinn für das wirklich Neue, wenn wir in jeglichem Sinne das Vergangene durchdrungen haben; dann erst können wir die ewige Kluft zwischen konservativ und fortschrittlich; zwischen ewig-gestrig und zukunftsselig; zwischen reaktionär und utopisch überwinden.


Leider aber ist es nicht damit getan, das miteinander in Ausgleich zu bringen, was sich zwischen „einstmals“ und „jetzt“ auf der Zeitachse des Geschichtlichen abspielt.

Auch der Raumesaspekt – vielleicht zusammenzufassen unter dem Begriff der „kulturellen Umgebung“ - hat hier seine Tücken. „Sich zu verorten in einem bestimmten kulturellen Milieu“ bleibt eine abstrakte Formel, wenn man sich klar macht, wie sehr ein eventuelles Eingebundensein den Aspekt des „In-der-Nähe-Seins“ und des „Lebens-inmitten-von“ nur als Metapher benutzt, um dem seelischen Aspekt des Sich-zugehörig-Fühlens und gar einem gewissen Geborgensein den Anschein des Handfesten und soziologisch Abgesicherten zu geben.

Gleichwie auf dem Zeitpfeil des Geschichtlichen erst das eigenständige, ichhafte Hin-und-wider-Wandern zum Erringen eines geschichtlichen Standpunktes führt, wird auch die kulturelle Milieuumgebung erst zur fühlbaren Substanz, wenn die eigenständige, ichhafte Bewegung in ihr stattfindet.

Doch auf diese Weise kommt es niemals zur fadenkreuzartigen, Raum und Zeit, Orts- und Geschichtsaspekt übereinwerfenden Zielgeste, in der das Kulturelle je mit sich ganz im reinen wäre – weil es sich beständig in Freiheit bewegt.

In einer Welt, die in allem die Fixierung sucht, weil sie sonst den Halt zu verlieren meint, steht der kulturelle Gedanke so als große Hinterfragung und als großes Hinterfragtes da – und doch aber steht er ganz im Zentrum.